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Donnerstag, 15. August 2013

Gérard

Diese Geschichte habe ich vor einigen Jahren geschrieben und sie kürzlich beim Aufräumen gefunden.


Nie wieder habe ich jenes grosse, alte, uralte Haus gefunden. Obwohl ich lange danach gesucht habe. Wirklich lange. Ich weiss noch genau, bei welcher Metrostation wir ausgestiegen waren und dann hatten wir diese vielspurige, breite Strasse überquert. Doch dann verliert sich meine Erinnerung in dem Gewirr enger, kleiner Gässchen, durch die wir bestimmt zwanzig Minuten gelaufen waren und die mir wie ein Labyrinth erschienen sind. Natürlich habe ich auch herumgefragt. Bekannte, Leute auf der Strasse, sogar einen netten Herrn aus der Gemeindeverwaltung des dortigen Distrikts habe ich befragt. Aber niemand hat je von diesem Haus gehört oder gar von dem Treiben darin. Irgendwann gab ich die Suche schliesslich auf. Manchmal lässt man die Vergangenheit besser ruhen. Doch möchte ich Dir, lieber Freund, von meinen Erlebnissen berichten. Wenn jemand davon erfahren sollte, dann Du.

Ich lernte ihn während einer meiner Reisen kennen, als ich eines abends, ich glaube es war ein Donnerstag, alleine in einer Bar sass und an meinem Martini nippte. Ich war noch nicht sehr lange da, vielleicht ein halbe Stunde, und beobachtete durch den Spiegel hinter dem Tresen die anderen Gäste. Ich liebe es, Leute zu beobachten. Man kann durch die Kleidung, Gestik, das Getränk... so vieles über einen Menschen erfahren. Aber, so musste ich lernen, manchmal kann man auch getäuscht werden. Manchmal nützt einem jegliche Menschenkenntnis, die man zu besitzen glaubt, nichts. Rein gar nichts. 
Etwas weiter links von mir stand ein Mann, schätzungsweise fünf Jahre älter als ich. Vielleicht auch etwas mehr. Er war gross, sicher 1.90m, hatte tiefschwarzes, volles Haar, das an den Seiten bereits erste Graustiche aufwies. Hin und wieder schob er eine unbändige Haarsträhne zurück, die ihm in die braungebrannte Stirn fiel. Was mich aber vor allem faszinierte, waren seine Augen. Sie schienen schwarz zu sein, aber manchmal, wenn einer der letzten Sonnenstrahlen sein Gesicht traf, schienen sie doch eher grünlich. Lässig lehnte er an der Bar, einen Whisky in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. Plötzlich merkte er, dass ich ihn anschaute und nickte mir freundlich zu. Ich errötete - wollte ich ihn doch nicht anstarren! Aber er lächelte nur und bot mir aus einer wunderschön verzierten, filigranen Silberschachtel eine Zigarette an. Dankend nahm ich an und so kamen wir ins Gespräch. Er hiess Gérard. Gérard war Franzose, irgendwo aus der Nähe von Marseille, sprach aber nahezu fliessend Deutsch, da er in Hamburg Geschichte studiert hatte. Ich interessiere mich, wie du ja sicher weisst, sehr für die Antike. Es stellte sich heraus, dass dies sein Spezialgebiet war. Es war äusserst interessant, sich mit Gérard zu unterhalten. Er wusste viel zu erzählen und das in einer Weise, dass ich gar nicht merkte, wie die Zeit verging. Zudem hatte er so viele Interessen! Musik und Kunst zum Beispiel, vor allem alles surrealistische hatte es ihm angetan. Es wurde dunkel, die Bar leerte sich und bald waren wir die einzigen Gäste. Als der Barkeeper schliesslich die Musik ausschaltete und begann, die Lichter zu löschen, verliessen wir die Bar. Wir verabredeten, uns am darauf folgenden Nachmittag zu treffen und gingen dann jeder seines Weges.

In den nächsten Tagen verbrachten wir viel Zeit miteinander. Da wir beide alleine unterwegs waren, hatten wir beschlossen, die Stadt gemeinsam zu erkunden. Wir verstanden uns wirklich prächtig, ohne uns jedoch zu nahe zu kommen. Ich bewunderte ihn für sein schier grenzenloses Wissen und mochte seinen Humor. Dennoch schien ihn etwas düsteres zu umgeben. Es flösste mich aber keine Angst ein. Im Gegenteil machte es ihn nur noch interessanter, da es ihm eine geheimnisvolle Ausstrahlung verlieh. 
An unserem letzten gemeinsamen Abend, wir sassen wieder in derselben Bar in der wir uns kennengelernt hatten, waren wir beide etwas wehmütig. Waren wir doch in der kurzen Zeit irgendwie Freunde geworden. Schliesslich trennten wir uns ohne viel Worte und gaben uns das Versprechen, in Kontakt zu bleiben.

Wieder daheim ging mir Gérard einfach nicht aus dem Kopf.

Du magst dich nun wundern, wieso ich Dir nie von ihm erzählt habe, wenn er doch eine zeitlang eine gewisse Rolle in meinem Leben gespielt hat. Nun, ich habe meine Gründe ihn nie wieder sehen zu wollen und versuche daher jene Geschehnisse die danach folgten, zu vergessen. Doch die Jahre haben mir gezeigt, dass man nichts vergessen kann, was einen innerlich nicht loslässt, was man nicht verarbeitet hat. Das ist der Grund, weshalb ich jetzt, nach so langer Zeit, die Geschichte erzähle. Und ich wüsste nicht, wem ich mich sonst anvertrauen könnte.

Nur wenige Monate später trafen wir uns wieder. Dieses Mal in Italien. Beide waren wir geschäftlich dort und beschlossen, uns am Wochenende in der uns am nächsten liegenden Stadt zu treffen. Er hatte dort Freunde, wie er sagte, und kenne sich daher aus. Wir wohnten in demselben Hotel und trafen uns auch dort, da er schon einen Tag früher eingetroffen war. Er begrüsste mich herzlich und fragte mich, ob ich Lust hätte, am nächsten Abend ein Konzert seiner Freunde zu besuchen. Ein Jazzkonzert. Da ich ein grosser Fan von Jazzmusik bin, sagte ich natürlich zu. 
Es war wirklich schön, Gérard wieder zu sehen. Wir verbrachten den Abend mit gutem Wein und langen Gesprächen. 
Sehr spät erst gingen wir zurück ins Hotel. Sein Zimmer befand sich direkt neben meinem. In beschwingter Laune - nicht nur wegen dem Wein - machte ich mich bettfertig und beschloss dann, um den Abend ausklingen zu lassen, noch eine Zigarette auf meinem winzigen Balkon zu rauchen. Von dort blickte man über einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein wunderschöner Brunnen stand, der leise vor sich hin plätscherte. In Gedanken versunken stand ich da, als ich plötzlich von nebenan, aus Gérards Zimmer, seltsame Geräusche hörte. Ein Kratzen und Scharren, als würde eine Katze ihre scharfen Krallen an der Wand wetzen. Ich beugte mich leicht vornüber, um so vielleicht durch das Fenster seiner Balkontüre einen Blick in sein Zimmer erhaschen zu können. Ich sah nichts, hörte jetzt aber dumpf Gérards Stimme. Er sprach in einer mir unbekannten Sprache. Sie war mir so fremd, dass es sich eher wie eine Aneinanderreihung seltsamer Töne anhörte und so gar nichts mit einer irdischen Sprache gemeinsam zu haben schien. Neugierig beugte ich mich noch etwas weiter vor und noch weiter, bis ich fast vom Balkon kippte. Plötzlich sah ich einen schwarzen Schatten hinter seiner Balkontür vorbei huschen. Ich konnte gerade noch einen leisen Schrei des Erschreckens unterdrücken und hätte beinahe mein Gleichgewicht verloren. Entsetzt trat ich einen Schritt vom Geländer zurück. Die eigenartigen Geräusche waren verstummt. Einzig allein das Plätschern des Brunnens war zu hören. Stille. Ich beschloss, zu Gérard herüber zu gehen, um mich zu versichern, dass alles in Ordnung war mit ihm. Aus dem soeben gehörten und gesehenem wurde ich nicht schlau. Eine halbe Minute später klopfte ich also zaghaft an seine Tür. Nichts. Kein Laut war zu hören. Ich klopfte erneut, diesmal energischer. Ein Ächzen drang hinter der Tür hervor. Schliesslich wurde der Schlüssel im Schloss umgedreht und Gérard öffnete die Tür. Er sah ganz normal aus, wie immer. "Ist alles in Ordnung bei dir?" fragte ich besorgt. Ja klar, antwortete er, alles sei in bester Ordnung und warum ich denn so besorgt blicke. Ich erzählte ihm nicht von den Geräuschen, die ich gehört hatte, auch nicht vom Schatten. Plötzlich kam mir das alles so unwirklich kindisch vor. Trotzdem warf ich über seine Schulter einen kurzen Blick in sein Zimmer. Alles schien normal. Doch nun nahm ich, wenn auch nur ganz leicht, einen seltsamen Geruch, ja beinahe Gestank, wahr. Ach, ich bildete mir das bestimmt nur ein, sagte ich mir. "Ach nichts", sagte ich also nur, "ich wollte dir nur noch einmal gute Nacht wünschen." Er schaute mich an, mit diesem verschmitzten Lächeln, das mir jedes Mal weiche Knie verursachte, und ehe ich mich versah, gab er mir einen langen, leidenschaftlichen Kuss. "Schlaf gut, Amelie." Und schloss die Tür wieder. Etwas verdattert, mit zitternden Knie und brennenden Lippen ging ich zurück in mein Zimmer und legte mich endlich schlafen. Nach einer langen Weile fand ich zu einem unruhigen Schlaf, voller düsterer und beängstigender Träume. Bereits kurz nach Sonnenaufgang wachte ich schweissgebadet auf, da ich im Traum von einer Bestie verfolgt worden war. Nun, es war keine Bestie im eigentlichen Sinne, sondern eine junge, bildhübsche Frau, mit langen dunklen Haaren, ebenso dunkel wie ihre Augen, die mich mit ihrem Blick zu durchdringen schienen. Ich weiss nicht wieso, aber der Blick dieser Frau hatte mir aus irgendeinem Grund mehr Angst eingejagt als alles andere was ich bisher gesehen hatte. An Schlaf war nicht mehr zu denken. So nahm ich ein ausgedehntes Bad und weckt nach einem kurzen Morgenspaziergang Gérard.

Der Rest des Tages verlief eigentlich ziemlich umspektakulär, vor allem kusslos. Wir fuhren für den Nachmittag ans Meer und kamen am Abend zurück, um in seinem Lieblingsrestaurant etwas zu essen und danach an das Konzert seiner Freunde zu gehen.
Er erklärte mir, es fände in deren Haus statt und läge etwas ausserhalb vom Stadtzentrum, dass wir aber mit der Metro bequem dorthin gelangen konnten. 
Von der Metrostation führte unser Weg uns schliesslich durch kleine Strassen und enge Gassen, vorbei an alten, hohen Häusern, die bestimmt schon bessere Zeiten gesehen hatten. Der Verputz bröckelte bei den meisten Gebäuden bereits ab und in den untersten Stockwerken waren teilweise kein Fenstergläser mehr und die Fenster stattdessen mit Kartonschachteln abgedeckt. Mir fröstelte ein wenig und ich war froh, Gérard bei mir zu haben, ohne den ich mich niemals in eine solche Gegend gewagt hätte. Schon bald verlor ich jeglichen Orientierungssinn und folgte mehr oder weniger blind meinem Gefährten, der sich hier bestens auszukennen schien. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten wir schliesslich das das wohl älteste und heruntergekommenste Haus von allen. Die obersten Stockwerke waren eingefallen und fast die gesamte Fassade bis hoch zum zweiten Stockwerk war über und über mit Moos bewachsen. Es war unheimlich. Ich fragte Gérard, ob denn sein Freund wirklich hier wohne? Er lachte nur und meinte, dieser Freund habe eben einen eigenen Geschmack und sei ohnehin ein sehr spezieller Mensch, aber das würde ich dann schon merken, wenn ich seine Musik höre. 
Noch heute klingt mir sein genauer Wortlaut nach: "Amelie", sagte er, "Amelie, wenn du die wunderlichen Klänge seiner Musik hörst, die man, einmal gehört, nie wieder in seinem Leben vergisst, die einen bis ins tiefste innere durchdringen, dann verstehst du auch, warum er sich diesen Ort als Wohnstätte ausgesucht hat." Er sollte recht behalten. Ich habe diese Klänge bis heute nicht vergessen, so gerne ich es auch würde. Sie verfolgen mich nicht selten bis in meine Träume. 

Wir traten ein und befanden uns in einer komplett anderen Welt. Alles was ich überblicken konnte war in Schwarz gehalten. Die Wände, der kleine Tisch neben der Eingangstür, der Rahmen des halb blinden Spiegels darüber, der Kerzenständer in der gegenüberliegenden Ecke sowie die sechs Kerzen darin. Ei mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Man musste offenbar nicht erst die Musik hören, um zu merken, dass der Mensch, der hier residierte, seinen ganz eigenen Geschmack hatte. Wir durchquerten den kleinen Raum und betraten einen grösseren. Es war eine Art Saal, der voller Menschen war. Obwohl bestimmt an die vierzig Personen hier drin waren, herrschte nicht, wie erwartet, ein wildes Stimmengewirr, sondern es war überraschend leise. Die meisten schauten andächtig zur Bühne hoch, auf der nun drei Männer mit ihren Instrumenten Platz nahmen. Dann kam noch ein vierter, ohne Instrument, es musste sich um den Sänger handeln. Er nickte Gérard zu, als er ihn entdeckte. Wir nahmen ebenfalls Platz unter den Zuschauern. Ich betrachtete den Raum, in dem wir uns befanden. Wie im Eingangsbereich war auch hier alles in schwarz gehalten. An den Wänden befanden sich Bilder, die direkt auf die Mauer gemalt zu sein schienen. Sie zeigten düstere, furchteinflössende Wesen, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Mir schauderte. Eines zeigte ein Wesen, das einem Stier glich, doch es hatte sechs Beine, oder besser gesagt zwei Beine und vier Arme. Es stand aufrecht und hielt in der einen Klaue einen menschlichen Kopf, den es auf eine seiner riesigen, scharfen Krallen aufgespiesst hatte. In einer andere Klaue hielt es einen Stab, dessen Ende eine eigenartige Form aufwies, auf eine Art verdreht und doch schien es gerade. Noch nie hatte ich so etwas gesehen. Das Wesen hatte schleimige, braune Haut auf der etwas unverkennbares wucherte und aus seinem Maul tropfte Blut.
Auf einem anderen Bild war eine sexuelle Szene dargestellt. Eine Frau mit üppigen Brüsten an denen sich ein menschenähnliches Wesen labte befand sich gerade im Geschlechtsakt mit etwa, das dem Stierdings aus dem vorherigen Bild glich. Ihr Gesicht war zu einem Stöhnen verzerrt, wobei ich mir nicht sicher war ob vor Lust oder aus Schmerz. Es wirkte so unglaublich real.
Schaudernd wandte ich mich wieder der Bühne zu. Die Menschen die um uns herum sassen wirkten eigentlich alle recht gewöhnlich. Aber ich hörte niemanden lachen, nur hin und wieder flüsterte jemand leise etwas seinem Nachbarn zu. 
Schliesslich, nah mehrmaligem Räuspern des Sängers, begann die Band zu spielen. Und wie sie spielten. Niemals, vorher nicht und auch nachher nie wieder, habe ich solche Klänge gehört. Die Musik zog mich vollkommen in ihren Bann, mit ihrer düsteren Melodie, ihren weichen Klängen, deren Rhythmus immer schneller zu werden schien, immer wilder, aggressiver. Die Töne bohrten sich in mein Gehör, schienen in meinem ganzen Körper zu toben. Sie erzählten von alten, vergangenen Zeiten, von Dingen die kein Mensch je zu Gesicht bekommen sollte. Sie füllten meinen Kopf mit Gedanken, die ich nie zuvor gedacht hatte. Gedanken schwarz wie die Nacht. Die Melodie erweckte Bilder in meinem Kopf, die nicht irdischen Ursprungs sein konnten.Bilder von riesigen Ungeheuern die gegeneinander kämpften. Bilder von Wesen, die aussahen als wären sie im Verfall begriffen, die mich umtanzen, mich umschmeichelten, mir nah und immer näher kamen mich mit ihren Zungen berührten, bis ich meinte ihren Gestank nach Verwesung riechen zu können. Und trotz des ganzen Ekels wollte ich es. Wollte ich von ihnen berührt werden. 
Das war ganz  bestimmt kein Jazz.Der Saxophonist brachte Töne zustande, die ich zuvor für gar nicht möglich gehalten hätte und der Cellist spielte in einem so unglaublichen Tempo, dass ich glaubte seinen Bewegungen gar nicht mehr folgen zu können. Un der Sänger... Seine Stimme ging durch Mark und Bein. Sie riss mich mit sich, forderte zum Tanze auf und liess mich nicht wieder los, wirbelte mich um meine eigene Achse, warf mich in die Luft, fing mich wieder auf. Plötzlich merkte ich, dass ich, ebenso wie alle anderen, am tanzen war. Wild wirbelte ich herum, tanzte mit Gérard ebenso wie mit anderen, mir wildfremden Männern und Frauen. Die Musik hatte mich in eine Ekstase versetzt. Es war eine wilde Orgie des Tanzens und der Musik.
Plötzlich sah ich, wie vor mir zwei Männer begannen, eine Frau auszuziehen, und anfingen sie zu küssen und zu lecken. Sie genoss es sichtlich. Dies riss mich aus meinem Delirium. Von einer Sekunde zur anderen war ich wieder ich selbst. Ich musste hier raus! Ich sah mich um und stellte entsetzt fest, dass dieses "Konzert" wirklich zu einer Orgie auszuarten begann. Jeder schien mit jedem zugange zu sein, ein grosser Haufen wilder, nackter Menschen. Ich glaubte Gérard mit einem jungen, blonden Mann zu sehen, war aber nicht sicher. Es war mir egal. Ich wollte nur noch weg.

Verzweifelt rannte ich durch die nächstbeste Tür und schloss diese sogleich hinter mir. Stille. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, hörte ich keinen Ton mehr. Komplette Stille und komplette Dunkelheit umgaben mich. Ich holte tief Luft und spürte, wie ich langsam wieder klar wurde im Kopf. Ich holte mein Feuerzeug heraus und erkannte mit dessen Hilfe, dass ich mich nicht, wie erhofft, in dem kleinen Eingangsraum befand, sondern in einem langen Gang, von dem links und rechts scheinbar unendlich viele Türen abzweigten. Wahllos öffnete ich die erste Tür zu meiner Linken. Eine Treppe führte in die Tiefe. Plötzlich durchzuckte ein Schmerz meinen Daumen. Ich hatte mich am, inzwischen heiss gewordenen, Feuerzeug verbrannt. Aus Reflex liess ich es los und hörte wie es die Treppe hinunterpolterte. In dieser alles umfassenden Stille hörte es sich tatsächlich wie ein Poltern an. Oh nein, dachte ich, nicht auch das noch! Nun, wollte ich nicht im Dunkeln herumtappen müssen, blieb mir wohl nichts anderes übrig, als mein Feuerzeug zu suchen. Ich lief ein paar Stufen hinunter, bis zu der Stelle, wo ich glaubte, dass mein Feuerzeug gelandet sei. Vorsichtig tastete ich den Boden ab. Plötzlich fasste ich in etwas weiches, schleimiges, pulsierendes und kaltes. Ich stiess einen Schrei aus, stolperte vor Schreck - und fiel in die Tiefe.
Irgendwann hatte die Treppe ein Ende und ich blieb bewegungslos liegen. Jeder einzelne Knochen tat mir höllisch weh, mein Kopf schien zu platzen und ich spürte etwas warmes, klebriges mein Gesicht heruntertropfen. Ich musste mir den Kopf aufgeschlagen haben. Einige Minuten blieb ich so liegen und wagte es nicht, mich zu bewegen.  Ich lauschte in die Dunkelheit hinein und hörte - nichts. Totenstille. Was war das wohl gewesen, das ich vorhin berührt hatte? Es erinnerte mich stark an eine Nacktschnecke, nur das dieses Ding viel grösser gewesen war. Und Nacktschnecken pulsieren meines Wissens nichts. Ekel ergriff mich. Und Angst. Was wenn es noch mehr von diesen Dingern hier unten gab? Gar nicht erst daran denken. 
langsam versucht ich aufzustehen. Soweit ich das beurteilen konnte, schien nichts gebrochen zu sein. Nur mein Kopf fühlte sich an, als würde er demnächst explodieren. Wie sehr sehnte ich mich nach meinem Zuhause, einem Aspirin und einem warmen Bad... Aber nein, ich war ja in diesem verfluchten Gebäude. Ich versuchte mich zu beruhigen. Es gab drei Möglichkeiten: Nach oben gehen und dort zurück zu den anderen oder den Ausgang suchen. Oder hier meinen Weg suchen. Ich entschied mich für letzteres. Vielleicht gab es ja noch einen anderen Aufstieg als diese Treppe. An diesem ekligen Ding traute ich mich nämlich  nicht noch einmal vorbei. Dabei erschien mir inzwischen sogar der Gedanke, wieder zur Orgie zurückzukehren fast verlockend. Zumindest verglichen mit meiner jetzigen Situation, allein in einem stockdunklen Keller, in Gesellschaft von schleimigen Dingern. Also tappte ich im Dunkeln der Wand entlang, in der Hoffnung auf eine Tür oder Treppe zu stossen. Schon nach wenigen Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, stiess meine Hand auf raues Holz und dann auf eine Türklinke. Ich wollte diese soeben hinunterdrücken, da hörte ich hinter mir ein entsetzliches Geräusch. Eine Mischung aus Schnauben, Krächzen und Quietschen. Gleichzeitig vernahm ich das Kratzen von Krallen auf dem nackten Steinboden, das sich rasend schnell auf mich zu bewegte. 

Dies alles mag sich sehr unwahrscheinlich für dir anhören. Du denkst wahrscheinlich, ich habe das alles erfunden, meine Fantasie sei mit mir durchgegangen oder ich möchte dir einen Bären aufbinden. Aber ich schwöre bei Gott, genaue und nicht anders habe ich es erlebt. Ich habe nichts ausgeschmückt oder weggelassen. Ich berichte dir die Geschehnisse genau so, wie sie sich abgespielt haben, damals in diesem Sommer. Wenn du auch an meinem Verstand zweifeln magst, ich kann es dir nicht verdenken. Ich habe selbst daran gezweifelt, wollte alles selbst nicht glauben, es als Hirngespinst abtun, als Auswuchs meiner Fantasie, die Schuld den drei Gläsern Wein geben, die ich zuvor am Abend getrunken hatte. Aber ich habe mir das alles nicht eingebildet - oh, wie sehr ich mir wünsche, es wäre so! Aber auf der Erde gibt es manche Dinge, um die wir besser nichts wissen.

In Panik öffnete ich die Tür, rannte in das Zimmer hinein und warf die Tür kräftig hinter mir zu. Höchsten eine halbe Sekunde später prallte etwas mit voller Wucht dagegen. Ein heiseres Knurren und Gurgeln erklang, dann ein wildes Kratzen, als wolle sich das Wesen durch die Tür hindurch kratzen. Es warf sich erneut gegen die Tür, die bereits verdächtig knarrte. Ich wollte den Ausgang dieser Szene nicht miterleben und drehte mich schleunigst um, um herauszufinden, ob dieses Zimmer einen anderen Ausgang besass. 
Was ich nun erblickte, liess mir das Blut in den Adern gefrieren. Am anderen Ende des Zimmers, das nur schwach von einer Öllampe beleuchtet war, sass das Mädchen aus meinem Traum. Als ich sie erblickte begann sie zu lächeln und gab dabei ein gurgelndes Geräusch von sich. Dies schien ein Befehl gewesen zu sein, denn mit einem Schlag wurde es ruhig hinter der Tür. Sie schaute mich mit grässlichen, alles durchdringenden Augen an. So sehr ich es auch wollte, ich konnte meinen Blick nicht von ihren Augen abwenden, noch brachte ich ein Wort heraus oder konnte mich bewegen. Wie festgefroren stand ich da und starrte in ihre Augen. Ich konnte ihre Augenfarbe nicht ausmachen, da sie ständig zu wechseln schien. Von grün zu blau zu purpur zu tiefschwarz. Schliesslich, wie mir schien nach einer Ewigkeit, sprach sie: "Da bist du endlich. Wir haben lange auf dich gewartet." Dann streckte sie mir ihre Hand entgegen. Wie im Fiebertraum ging ich zu ihr und nahm ihre Hand. 
War ihre Gegenwart schon fürchterlich gewesen - jetzt schien es mich innerlich zu verbrennen. Ich spürte, dass sie in mir war. Mit ihren Gedanken, ihrem ganzen Wesen. Sie brannte mich förmlich von innen aus. Ich war nicht fähig, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Ich war ihr willenlos ausgeliefert. Langsam verlor ich das Bewusstsein.

Die Erinnerung an die nächsten Tage - oder waren es Stunde, Wochen? - sind sehr verschwommen. Ich habe dunkle Bilder von einem grossen, tiefblauen, stillen See in meinem Kopf, von Gérard, der nicht mehr Gérard war. Gérard eng umschlungen mit diesem Mädchen. Gérards Lippen die mich überall berühren und meine Körper brennen lassen. Gérard in mir. Dieses Wesen von den Bildern an der Wand. Es hat dieselben Augen wie das Mädchen. 
Unzählige Bilder und Gedankenfetzen, aber ich kann sie einfach nicht einordnen. Sie ergeben keinen Sinn. Ich weiss nicht, welche der Wahrheit und welche meiner Fantasie entspringen. Ich hörte Stimmen in einer seltsamen Sprache zu mir sprechen, gleich der, die ich aus Gérards Hotelzimmer gehört hatte. Ich fühlte Hände überall auf meinem Körper, auf meinem Gesicht, meinem Bauch, zwischen meinen Beinen. Die Stimme des Mädchens die mir zuflüstert: "Nun bist du endlich zu Hause. Du gehörst zu uns."

Das erste woran ich mich konkret erinnern kann, ist, dass ich in meinem Hotelzimmer im Bett liege. Die heulende Sirene eines draussen vorbeifahrenden Polizeiautos hatte mich aufgeweckt. Was machte ich hier? Was war mit mir geschehen? War etwa alles nur ei böser Traum gewesen? Ich richtete mich auf und sogleich begann mein Schädel wild zu pochen. Leise stöhnte ich auf und legte mich wieder hin, um erneut, ganz langsam, versuchen aufzustehen. Ich schlurfte ins Bad, wo mich mein eigenes Spiegelbild erschreckte. Um meinen Kopf war fein säuberlich ein weisser Verband gewickelt. Meine Lippen waren aufgeplatzt. Ich schaute an mir herunter. Mein vollkommen nackter Köper war mit blauen Flecken und Schrammen übersät. War es doch kein Traum gewesen? Dann sah ich meine Hand. Ich sog scharf die Luft ein. Was ich sah erschrak mich zutiefst: Meine Hand wies schlimme Verbrennungen auf - genau dort, wo das Mädchen meine Hand gehalten hatte.Deutlich waren ihre Fingerabdrücke zu erkennen. 
Was sollte ich tun? Ins Krankenhaus gehen? Aber meine Verletzungen schienen fachgerecht versorgt worden zu sein. Zur Polizei gehen? Was sollte ich denen denn sagen? Dass ich von einem fiesen Mädchen, dass sich grässliche Wesen als Haustiere hält, vergewaltigt worden bin? Sie würden mich für verrückt erklären - zu recht. 
Also liess ich mir ein heisses Bad ein. Vielleicht würde das meine Lebensgeister wieder erwecken. Wie spät war es überhaupt? Wie viel Zeit war inzwischen vergangen?
Während sich die Wanne langsam mit Wasser füllte und der süssliche Duft des Badeschaums das Zimmer zu durchdringen begann, schaltete ich den Fernseher ein. Es war Dienstag, neun Uhr früh. Ich war also drei Tage weg gewesen. Drei Tage an die ich praktisch keine Erinnerung habe. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit. 
Nach dem Bad fühlte ich mich etwas besser. Ich zog mich an, ging zur Empfangshalle hinunter und fragte nach einem Aspirin. Während mir dieses gebracht wurde, fragte ich den Rezeptionisten, ob er sich erinnern könne, wann ich denn ins Hotel zurückgekehrt sei und mit wem. Er blickte mich reichlich komisch an, antwortete mir aber, ich sei gestern sehr spät, vielleicht so gegen vier Uhr heute früh zurückgekommen, in männlicher Begleitung. Als ich ihn um eine Beschreibung des Mannes bat, beschrieb er exakt Gérard. Als ich ihn aber nach Gérard fragte, der doch das Zimmer neben mir gebucht hatte, gab er an, diesen Mann noch nie zuvor gesehen zu haben. Im Zimmer nebenan hätte auch kein Signore Gérard Millaud gewohnt, sondern ein Signore Matteo Kanuva. Dieser hätte auch meine Zimmerreservation bis Mittwoch verlängert. 

Ich reiste noch am selben Tag zurück nach Hause. Von Gérard - oder Matteo - habe ich nie wieder etwas gehört. Aber seither habe ich regelmässig Albträume. Noch heute, obwohl es schon so lange her ist und alle Wunden längst verheilt sind, schmerzt meine Hand manchmal. 

Einige Jahre später ging ich zurück und versuchte, dieses Haus wieder zu finden. Aber ich hatte kein Glück. So lange ich auch in dieser zwielichtigen Gegend umherstreifte, dieses Haus habe ich nie gefunden. Auch hatte niemand dort je davon gehört. 

Mit diesem Bericht an dich, lieber Freund, versuche ich dieses Erlebnis endlich hinter mir zu lassen. Wer sonst sollte mich verstehen?





Mittwoch, 29. August 2012

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben

Challenge: Eine Figur leiht sich Geld aus, was viel bessere Folgen hat, als erwartet. Im Laufe der Geschichte findet eine Figur heraus, dass jemand vorgetäuscht hat, er/sie zu sein.
Modifikation: Aufgrund von zu heissen Temperaturen (falls sich das für Sie nach einer guten Entschuldigung anhört) waren wir beide etwas einfallslos. Weshalb wir uns darauf einigten, nur einen Teil der Challenge anwenden zu dürfen. Ganz nach persönlichem Wunsch bzw. Kreativitäts-Potenzial. 


Barnabas hatte alles gehabt. Er war ganz oben gewesen um schliesslich ganz unten angekommen. Er hatte Millionen verdient, war nur mit den bekanntesten und reichsten des Landes verkehrt. Ass nur in den teuersten Restaurants. Jeder kannte seinen Namen. Dann hatte er alles verloren. War auf der Strasse gelandet. Zunächst hatte man hinter seinem Rücken über ihn geredet. Aber Menschen sind vergesslich. Nach ein paar wenigen Monaten wusste niemand mehr, wer er war. Längst hatte jemand anderes seinen Platz in der Firma eingenommen, längst lag jemand anderes im Bett seiner Frau, längst spielte jemand anderes mit seinen Kindern. Nicht einmal das störte ihn. Er merkte schnell, dass er diesem Leben nicht nachtrauerte. Und schon gar nicht diesen Menschen, die ihn so schnell und herzlos ersetzten. So lebte er Tag vor Tag vor sich hin, kümmerte sich immer weniger, trank immer mehr, lebte in die Tage hinein. 

Alles änderte sich an diesem einen Tag. Er begann wie jeder andere. Der Lärm der Stadt weckte ihn bereits früh am Morgen. Auch daran hatte er sich gewöhnt. Er setzte sich an die Ecke, an der Männer im Anzug und Frauen in knielangen Röcken und weissen Blusen jeden Morgen zur Metrostation hetzten, in der einen Hand den Kaffee, in der anderen die Financial Times. Diejenigen, die dachten, sie hätten fast alles erreicht im Leben. Die dachten, es ginge ihnen gut und sie leben das Leben, das sie sich immer erträumt hatten. Diejenigen, die noch ein Gewissen hatten. Weshalb er sich hier jeden Morgen genügend Geld für eine Flasche billigen Fusel erbetteln konnte. Danach fischte er sich eine Zeitung aus einer Mülltonne und ging zum riesigen Stadtpark, wo er sich gemütlich auf eine Bank setzte und Ketchup und Kaffeereste von der Zeitung wischte, um diese dann zu lesen. Dieses Ritual war das einzige welches er aus seinem „früheren Leben“ mitgenommen hatte. Obwohl die Welt sich nicht um ihn scherte, berunruhigte es ihn, nicht zu wissen was in ihr los war. In der Regel verbrachte er dann die meiste Zeit des Tages alleine im Park, trank aus seiner Flasche und las in der Zeitung. Aber nicht heute. Heute sollte alles anders kommen. Vielleicht lag es daran, dass Freitag der Dreizehnte war. Vielleicht war es auch Schicksal. 

Er lag auf seiner Parkbank, die fertig gelesene Zeitung diente inzwischen als Kopfkissen, lauschte den Vöglen, hing seinen Gedanken nach und trank hin und wieder einen Schluck aus seiner Flasche. Das war seine Art, das Leben zu geniessen. Er brauchte dazu nicht einmal die Gesellschaft anderer Menschen - sie war ihm sogar eher zuwider. Die meisten Menschen waren entweder zu egozentrisch, befanden sich bildungsmässig auf dem Niveau einer Strassentaube oder waren schlichtweg langweilig. Da war er sich selber ein besserer Gesprächspartner. „Nicht war?“ brummelte er in seinen Bart. Das war auch der Hauptgrund, weshalb er sich strikt nur alle zwei bis drei Wochen wusch. Er hätte nämlich sehr wohl die Gelegenheit gehabt, sich täglich zu waschen. Aber irgendwann hatte er festgestellt, dass, je mehr er stank und desto verwahrloster er wirkte, er nicht nur mehr Geld erbetteln konnte sondern er vor allem in Ruhe gelassen wurde. Die Leute schauten ihn an, rümpften die Nase, warfen ihm vielleicht aus Mitleid einige Münzen zu und zogen weiter ihres Weges. Die anderen Obdachlosen hatten längst begriffen, dass er ein Einzelgänger war.

Aber heute kam dieser Schnösel und setzte sich neben ihn. Und rümpfte dabei nicht einmal mit der Nase. Er holte eine etwas zerknautschte Tüte aus seiner Aktentasche hervor und hielt sie ihm hin. Als würden sie sich kennen. „Was’n das?“ murmelte Barnabas, bemüht, sein Desinteresse zu Tage zu bringen. „Sie wollen doch bestimmt frühstücken, ihr Lieblingsbrötchen!“ Nicht nur, dass er sich einfach so ungefragt zu ihm auf die Bank gesetzt hatte und ihn in seiner Siesta störte, jetzt mass sich dieser Schnösel also auch noch an, sein Lieblingsbrötchen zu kennen. Barnabas war aber auch ein sehr höflicher Mensch - meistens jedenfallls - weshalb er den Mann nicht verjagte. Er zögerte und konnte sich nicht entscheiden, ob er seinem Magen Beachtung schenken sollte, der definitiv noch etwas Nahrung vertragen könnte, oder doch seinem Wunsch nach mental erhoslamer Einsamkeit folgen. Während er überlegte, riss der Mann die Papiertüte auf und hielt ihm das frisch duftende Gebäck unter die Nase. Womit sein Magen als Sieger aus der internen Diskussion ging. Er nahm es entgegen und biss herzhaft herein. Ein Früchtebrötchen! Das könnte tatsächlich sein Lieblingsbrot sein. Sehr lecker. Er bedankte sich mit vollem Mund. Der Mann im teuren Anzug lächelte etwas unterkühlt und blieb immer noch sitzen.
„Schöner Tag heute, was?“
„Mhm…“, nuschelte Barnabas und genehmigte sich einen grossen Schluck Fusel aus seiner leider schon halb leeren Flasche.
„Hat es denn heute geklappt?“
„Hm?“
„Na, sie wissen schon. Der Adler. Und?“ Neugierig schaute er Barnabas an und wiederholte seine Frage noch einmal, als dieser ihn nur anstarrte ohne etwas zu erwidern.
Entweder der hat sie nicht alle, dachte Barnabas, oder der will mich hier verarschen. Und beschloss, mehr aus Höflichkeit, bei dem Spielchen mitzumachen. Anscheinend würde er den Typen so schnell sowieso nicht loswerden. Und wenn er tatsächlich eine Schraube locker hatte, könnte sich doch sogar eine lustige Unterhaltung daraus ergeben. Diese schien sich ohnehin nicht vermeiden zu lassen.
„Ach ja, der. Der Adler. Ja, der flog heute nicht so hoch.“
Besorgt hob sein Gegenüber eine Augenbraue, um dann seinen Blick nachdenklich in die Ferne zu richten. „Das ist nicht gut. Gar nicht gut.“ Im Flüsterton fügte er hinzu: „Aber der Vogel ist erledigt?“
„Ja natürlich. Das Vögelchen singt keine Lieder mehr!“
„Gut, gut. Das ist sehr gut. Na dann, bleiben sie mal auf ihrem Posten!“
„‘türlich!“
Der Mann stand auf, glättete seinen Anzug mit den Händen, nickte ihm noch einmal freundlich zu und verschwand dann in die Richtung, aus der er gekommen war. 

Komischer Kauz, dachte sich Barnabas, ass sein Brötchen fertig und döste dann, die Flasche im Arm, ein.
Kurz darauf wurde er unsanft geweckt. Jemand rüttelte an seiner Schulter. „Hey, du Sack, wach schon auf!!“ Barnabas öffnete ein Auge und blickte in ein junges Gesicht mit kantigen Gesichtszügen. „Mach Platz, Mensch!“ Noch einmal wurde er in die Schulter gestossen, diesmal so fest, dass seine Flasche laut klirrend zu Boden fiel und zerbrach. Die durchsichtige Flüssigkei versickerte langsam zwischen den Steinen. „Jetzt reichts aber! Was ist denn bloss los heute!“, donnerte Barnabas. Das war seine einzige Flasche für heute gewesen. Und er verspürte ganz und gar keine Lust, den restlichen Tag nüchtern zu verbringen. Er wollte soeben den jungen Mann an seinem Shirt packen und ihn anbrüllen, er solle ihm gefälligst eine neue Flasche kaufen, als dieser stattdessen ihn am Kragen packte und zischte: „Also, wie du siehst, haben wir Wind bekommen von der Sache. Und finden es gar nicht gut, aussen vor gelassen zu werden. Das verstehst du doch sicher?“ Er grinste schleimig. Bevor Barnabas antworten konnte, öffnete er seine Lederjacke ein bisschen.Eine kleine, schwarze Pistole blitzte hervor.
„Entweder du leitest alle Informationen unverzüglich an uns weiter, oder du hast die Sonne heute zum letzten Mal aufgehen sehen.“
Barnabas wusste nicht, was er sagen sollte. Die Worte des Jungen schienen ihm sehr theatralisch. Die Pistole jagte ihm keine Angst ein. Der Tod jagte ihm keine Angst ein. Schon lange nicht mehr. Etwas in ihm war schon vor langer Zeit gestorben. Und was sollte nach dem Tod schon erschreckenderes kommen, was er nicht schon zu Lebzeiten gesehen hatte? Vor allem hatte er jedoch keine Ahnung wovon der Halbstarke überhaupt sprach. Heute war ein sehr verwirrender Tag. Vielleicht sollte er in Zuknft doch etwas weniger trinken. Oder eben erst recht noch mehr.  
„Und? Was sagst du, Alter?“ Die Stimme des Typen wurde gefährlich leise.
Barnabas überlegte, dass er den Typen wohl am schnellsten loswerden würde, wenn er ihm einfach zustimmte. „Is ja gut. Ihr bekommt was ihr wollt. Ich sag euch alles.“
„Dann verstehen wir uns ja. Ist übrigens auch das mindeste, was du für uns tun kannst, nach allem. Ich werde da hinten, in Sichtweite, warten.“ Er schloss seine Jacke wieder, stand auf und griff in seine Hosentasche, aus der er einige zerknitterte Geldscheine hervorzog. Er war sie Barnabas vor die Füsse. „Hier, somit bin ich dir nichts mehr schuldig. Kannst dir gleich auch ´ne neue Flasche billigen Fusel davon kaufen. Damit dir auch jeder dein Spielchen abkauft. Und nach der Aktion von heute kann dann wieder jeder seiner Wege gehen.“  Somit entfernte er sich, drehte er sich dann aber noch einmal um: „Komm ja nicht auf falsche Gedanken. Ich werde dich nicht mehr aus den Augen lassen.“

Barnabas verstand die Welt nicht mehr. Wagte aber nicht, zuviel darüber nachzudenken. Früher hatte er sehr viel Zeit mit Nachdenken verbracht. Und wohin hatte es ihn letztendlich geführt? Er zählte das Geld und stellte erstaunt fest, dass er von diesem Betrag durchaus einige Tage leben konnte. Was solls, dachte er bei sich, ist die Welt eben verrrückt geworden. Solange es mir zugute kommt, ist mir das egal. Somit zockelte er zum nächstgelegen Supermarkt. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der junge Mann ihm in sicherem Abstand folgte. Sollte er doch. Er dachte einfach nicht weiter darüber nach sondern freute sich über den Geldsegen. Zufrieden mit sich und der neuen Welt und einer Flasche Jack Daniels unter dem Arm, kehrte er schliesslich in den Park zurück. Barnabas fühlte sich tatsächlich fast glücklich, ein Gefühl das schon lange nicht mehr von ihm Besitz ergriffen hatte. Nicht, dass er unglücklich wäre. Auch nicht verbittert. Er lebte bloss einfach so vor sich hin. Und obwohl er Störungen in seinen täglichen Routinen, seinen immer gleichen Tagen hasste, schien dieser hier doch noch gutes zu bringen. Er musste grinsen. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl inneren Friedens. Das musste wohl von dem ungewohnt edlen Wässerchen her rühren, das er sich heute leisten konnte, dachte er sich. Doch als er sich wieder seiner Parkbank näherte, verging ihm seine gute Laune ein bisschen. Der Schnösel war wieder da. Er wollte gerade in die andere Richtung gehen, aber da befand sich bereits der andere Typ. In einigen hundert Metern Entfernung sass er auf einer Parkbank. Ausserdem hatte der Anzugmensch ihn schon gesehen und winkte ihm zu. Barnabas setzte sich zu ihm. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig.
„Na…“, begrüsste er seinen neuen Freund. Dieser war ganz aufgeregt: „Der Adler ist gelandet!“
Jetzt fängt das schon wieder an, dachte sich Barnabas.
„Das hast du doch gesehen?“
„‘Türlich.“
„Und was tun wir jetzt? Welches ist der nächste Schritt?“
„Jetzt sammeln wir die Eier ein.“
„Was?! Jetzt schon? Halten sie das für einen klugen Schachzug?“
„‘türlich. Muss so.“
Der Mann wirkte etwas unsicher. „Naja, sie müssen es ja wissen.“ Er holte ein Blackberry hervor und drückte eine Weile wild darauf herum. „Nun denn, dann mache ich mich wohl besser mal an die Arbeit.“, sagte er schliesslich in einem ruhigen, bestimmten Ton, holte eine Pistole mit Schalldämpfer hervor und drückte ab.

Barnabas hatte nicht einmal Zeit irgendwie zu reagieren, alles ging viel zu schnell. Der Halbstarke kippte lautlos vornüber und fiel zu Boden. Er rührte sich nicht mehr. Nicht einmal geschrien hatte er. Eine Blutlache bahnte sich langsam ihren Weg unter seinem Körper in den grünen Rasen hinein.

Der Schnösel steckte die Waffe wieder weg. „Jetzt aber nichts wie weg. Kommen sie, ich bringe sie nach Hause, damit sie sich umziehen können.“ Er rümpfte die Nase. „Und duschen wäre sicher auch keine schlechte Idee. Sie sind ja schon fast zu authentisch unterwegs!“ Er wollte eben aufstehen, da erklang Britney Spear "Oops I did it again" aus seinem Blackberry. Er runzelte die Stirn und antwortete. Das Gespräch dauerte nicht sehr lange. Die Miene des Mannes vedüsterte sich zunehmends. „Er hat was?!“, blaffte er schliesslich wütend in den Hörer. „Das werden wir noch sehen.“, knurrte er, bevor er auflegte und mit einer ruckartigen Bewegung seine Waffe zog, um sie Barnabas an den Kopf zu halten.
 „Wer sind sie?!“, schrie er ihn an.
„Ich… wer sind denn sie?“, entgegnete Barnabas entgeistert. Der Tag schien doch nicht so gut zu sein wie er angenommen hatte.
„Verarschen sie mich nicht!“, brüllte der Mann. „Was haben sie mit Rodriguez gemacht? Für wen arbeiten sie? Antworten sie mir!“ Er verlieh seinen Fragen Nachdruck, indem er jedesmal mit der Pistole auf seine Stirn einschlug. Definitiv. Kein guter Tag.
„Ich weiss nicht, wovon sie sprechen!“ versuchte Barnabas sich zu verteidigen.
„Haben sie Rodriguez umgebracht? Wer sind sie?!“
„Ich heisse Barnabas.“
„Barna.. was? Wer sind sie?! Verdammte Scheisse, ich habe die ganze Zeit gedacht sie seien Rodriguez! Für wen arbeiten sie, gottverdammt!“
Barnabas antwortete nicht.
Der Mann im Anzug drückte Barnabas Gesicht auf die Bank. Die noch ungeöffnete Whisky-Flasche rollte von der Bank und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden.
„Wir werden schon herausfinden, wer sie sind. Sogar ohne dass sie ihr Drecksmaul aufmachen.“ Er stand auf, hielt Barnabas die Pistole an den Hinterkopf, murmelte „Ich hasse es, ihre Gesichter sehen zu müssen.“ und drückte ab. Er steckte die Pistole wieder ein, strich seinen Anzug glatt und verliess den Park ohne sich noch einmal umzudrehen. 

Freitag, 3. August 2012

Dies ist keine Liebesgeschichte

Challenge: Die Geschichte spielt ein Jahrhundert in der Zukunft. Es kommt ein Estrich bzw. Dachwohnung ("attic") darin vor.

Zur Geschichte meines Kollegen.


Es war drückend heiss draussen. Einer dieser Sommertage, an denen man sich kaum bewegen mochte. Zumindest empfand Simona es so. Sie hasste diese Hitze. Sie bevorzugte angenehmes Herbst- oder Frühlingswetter. Noch nicht so kalt, dass man sich mit Winterjacke und Schal vermummem musste, aber auch nicht so heiss, dass man halbnackt durch die Gegend rennen musste um dem Hitzetod zu entrinnen. Also lag sie in ihrer Attikawohnung und versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Was sich einigermassen schwierig gestaltete, da ihre Katze zu ihr auf den Schoss wollte. Aber bei aller Liebe ertrug sie dieses als kleine Heizung fungierende Fellbündel jetzt nicht. Unter lautem Protest von Seiten der Katze schob sie sie vorsichtig mit dem Fuss weg und liess sich dann ächzend wieder zurück auf die Liege sinken. Sie bewegte sich nur hin und wieder um nervös auf die Uhr zu schauen. So lag sie da, seit sie am Morgen aufgestanden war. Wahrscheinlich hätte sie rausgehen sollen. Sich ablenken. Auf andere Gedanken kommen. Aber wohin hätte sie denn gehen sollen? Es würde sie doch alles an ihn erinnern. Freunde hatte sie dank ihm kaum mehr. Und die wenigen verbliebenen waren in den Ferien oder am arbeiten. Während sie ihren Job los war. Fristlos gekündigt. Dank ihm. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Die erste Woche hatte sie hauptsächlich heulend und Schokolade essend verbracht. So klischeehaft das auch sein mochte. Die süsse, leckere Nahrung verschaffte ihr irgendwie Trost. Dann, nach einigen Kilo Schokolade, war sie hauptsächlich wütend. Wie konnte er nur! Inzwischen befand sie sich in einem schon beinahe apathischen Zustand. 

Sie versuchte, sich auf andere Gedanken zu bringen und griff nach der Fernbedienung, um sich vom Fernseher ablenken zu lassen. Schnell zappte sie sich durch die Kanäle. Nur um festzustellen, dass, wie immer um diese Zeit, nur Schwachsinn lief. Talkshows, Reality-TV, Dauerwerbesendung. Erstaunt sah sie, wie ein etwas rundlicher Mann eine „Hornhautraspel“ an einer überschminkten Frau die übertrieben fröhlich in die Kamera guckte, austestete. Als er schliesslich mit überschwenglicher Freude eine Handvoll Hautraspeln in die Kamera hielt, schaltete Simona de Fernseher angeekelt wieder aus. So viele neue Erfindungen seit den letzten Jahrzehnten und dennoch war das Fernsehprogramm beschissen wie eh und je.

Ihre Katze wagte einen erneuten Angriff auf ihren Schoss. Simona zerknüllte ein Blatt Zeitungspapier und warf es in die andere Ecke des Raumes, um ihr Haustier so eine Weile zu beschäftigen. Wieso musste sie auch in einem so alten Haus leben. Es war irgendwann anfangs des 21. Jahrhunderts erbaut worden. Seither zwar renoviert, aber nicht genügend isoliert worden. Es gab heutzutage so viele Gadgets, die einem das Leben erleichterten. Man musste praktisch nichts mehr selber machen, könnte das Leben liegend verbringen. Das äusserliche Leben war zwar vereinfacht worden. Aber die echten Probleme ware trotzdem noch da. Und die zwischenstaatlichen Beziehungen hatten sich in den vergangenen hundert Jahren sogar verschlimmert. Die Menschen schienen nichts aus ihrer Geschichte gelernt zu haben. Alles schien sich zu wiederholen, nur schlimmer, da die Waffen immer präziser und gefährlicher wurden, immer modernere Technik zur Verfügung stand. Die grossen Nationen von damals waren längst nicht mehr was sie waren. Sie waren ihrem eigenen Grössenwahn zu Opfer gefallen. Die Länder, die ihre Waffen von ihnen aufgekauft hatten, hatten sich in der grossen Revolution 2085 gegen die USA verbündet. Es wurden weltweite, neue Waffengesetze verlangt. Seither hatte sich einiges geändert. Die USA ihre weltweite Machtstellung verloren und sich als Folge in zwei Länder aufgeteilt: Die Südoststaaten, die das Waffengesetz nicht ändern wollten, wurden zu Red States of America. In den letzten dreissig Jahren hatte deren Regierung die Red Union gegründet, eine Vereinigung von Schmugglern, Spionen und Auftragsmördern, die weiterhin Waffen ins Land schmuggelten. Immer wieder wurde bekannt, dass sich in den obersten Posten von verschiedenen Ländern Maulwürfe befanden. Doch diese tauchten jeweils gleich wieder unter. Die Welt bewunderte und hasste diese Spione zugleich. Vor einigen Wochen aber hallte eine schier unglaubliche Nachricht durch die Medien: Man hatte Jack Johanson, ein mutmasslicher Spion der Red Union, festgenommen! Und das ausgerechnet hier, in diesem kleinen Land, das von der Revolution und den mit ihr einhergehenden Wirrungen mehrheitlich verschont geblieben war. Aber es herrschte mehr Armut denn je. Politiker und Verbrecher aller Welt hatten aufgehört, in die Firmen und Banken ihres Landes zu investieren. Spätestens da hätte sie sich doch über seinen Lebensstil wundern sollen. Aber Liebe macht ja bekanntlich blind. Und dämlich. Und verwandelt einen offensichtlich sogar in eine Verräterin. Es gab Pillen für alles, man könnte praktisch aufhören zu essen. Aber gegen die Liebe und ihre Nebenwirkungen hatte man noch nichts erfunden. 

Simona bekam das Gefühl, in ihrer winzigen Dachwohnung langsam durchzudrehen. In den letzten zehn Tagen war sie nur einmal aus dem Haus gegangen, um etwas Brot zu kaufen, weil die Website des Lieferdienstes ständig abgestürzt war. Wahrscheinlich hatte sich jemand in ihr System gehackt. Einer von denen, die ihr ständig anriefen , um ihr mitzuteilen was für eine Hure sie doch sei. Was für eine Verräterin. Dass man sie lieber tot sehen möchte. Dass sie es nicht wert sei, hier zu leben. Nach drei Tagen schmiss sie ihr Telefon aus dem Fenster. In den Pool ihrer Nachbarin, deren Stimme sie unter den unzähligen Anrufern erkannt hatte. Sie hatte es ja nicht mal bis zum Bäcker um die Ecke geschafft, ohne mit leeren Büchsen und sogar einer Tomate beworfen zu werden.

Keiner fragte sie, wie es soweit kommen konnte. Keiner überlegte sich, wie sie sich wohl fühlte. Keiner kam zu der logischen Schlussfolgerung, dass sie vielleicht tatsächlich unschuldig war. Keiner fragte nach. Alle urteilten nur. Niemand dachte daran, was das alles wohl in ihr ausgelöst hatte. Das hatte sie nicht nur ihm zu verdanken, sondern zu einem Grossteil auch der Presse. Alle grösseren Schundblätter des Landes hatten hier sturmgeklingelt. Ob sie Stellung beziehen wolle. Warum es soweit kommen konnte. Wie sie ihre Tat erklärem könne. Ob sie denn so wenig Achtung vor ihren Mitmenschen, vor ihrem Land, empfinde. Sie hatte allen dasselbe geantwortet: „Lasst mich in Ruhe, ich werde nichts sagen, ich werde niemandem von euch ein Interview geben.“ Einer der anwesenden Reporter hatte daraufhin, wohl um nicht mit leeren Händen dazustehe, eine Geschichte über sie geschrieben, die mehrheitlich erstunken und erlogen war. Danach fingen die Drohanrufe an. Und sie konnte nichts dagegen tun, denn dann müsste sie der Öffentlichkeit die Wahrheit erzählen. Und das durfte sie nicht. Also versteckte sie sich vorerst in ihrer Wohnung. Zusammen mit ihrer Katze. Wenigstens die verurteilte sie nicht. Wieder schaute sie auf die Uhr. Verdammt, wo blieb er denn nur?

Angefangen hatte alles ganz harmlos. Ein Flirt in einer Bar. Danach ein Date. und noch eines. Beim vierten Date überraschte er sie mit einem selbergekochten Essen, Candellight-Dinner auf seiner Terrasse mit Blick auf den See. Absolut romantisch. Er gestand ihr seine Liebe, die sie natürlich erwiderte. Dann waren sie ein Paar. Ein absolut glückliches Traumpaar, das alle beneideten. Vier Jahre lang. Sie stritten kaum, verstanden sich perfekt, lasen sich gegenseitig jeden Wunsch von den Lippen. Er war der perfekte Gentlemann, ein wunderbarer Liebhaber und ein fürsorglicher Freund. So betrachtet, dachte sie jetzt, sollte sie vielleicht nicht ganz so wütend sein. Es war trotz allem eine wunderschöne Zeit gewesen. Sie war sich so sicher gewesen, in ihm den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Sie lachte bitter auf. Welch Ironie. 

Als sie gemeinsam in den Ferien waren fiel ihr zum ersten mal auf, dass etwas nicht stimmte. Strandurlaub im Süden. Damals waren sie knapp ein Jahr zusammen. Sie verbrachten zwei Wochen in dem kleinen, verschlafenen Fischerdörfchen am Meer. Er mag keine mit Touristen überlaufene Orte, hatte er erklärt. Ihr war es recht. Dennoch fand sie es seltsam, dass er, unter fadenscheinigen Ausreden, drei Mal einfach stundenlang spurlos verschwand. Sie hatte ihn zunächst sogar verdächtigt, sie zu betrügen, seinen Beteuerungen, so etwas würde er niemals tun, dann aber geglaubt. Er meditiere eben manchmal gerne allein am Strand. Um seine Mitte zu finden. Auch als er ihr einen fest zugeschnürten kleinen Sack gab, um ihn zu entsorgen, und der Frage, was es denn sei, auswich, hatte sie nicht weiter nachgefragt. Hätte sie doch. 

Diese seltsamen Ereignisse häuften sich. Er fand immer Ausreden. Sie glaubte aber immer mehr daran, dass er sie betrügte, eine Liebhaberin hatte. Wieso sonst war er manchmal tagelang nicht erreichbar? Es war für sie die einzig logische Erklärung. Vor einem knappen Monat schliesslich, als sie eigentlich ein romantisches Wochenende zusammen in der Berghütte von Freunden verbringen wollten, hatten sie sich deswegen so heftig gestritten, dass sie ihre Sachen zusammengepackt und alleine zurück nach Hause gefahren war. In einem öffentlichen Jet, obwohl sie diese engen Flugdinger hasste. Sie vermisste die Züge, die vor zehn Jahren abgeschafft wurden, wegen den ganzen Selbstmördern, die sich ständig auf die Schienen warfen. Kein Wunder, in dieser Welt, dachte sie. 

Etwa eine Woche lang hörte und sprach sie kein Wort mit ihm. Er versuchte einige Male, sie anzurufen, aber sie nahm nie ab. Am darauf folgenden Montag schliesslich, lehnte ein Briefumschlag an ihrer Türe. Sie kehrte an diesem Tag ungewöhnlich spät nach Hause zurück, weil sie noch mit einer Freundin weg war. Was bei ihr unter der Woche eher selten der Fall war. Ihr stockte der Atem für eine Sekunde, als sie seine geschwungene Handschrift auf dem Umschlag erkannte. Simona. Nur ihr Name. Sie nahm den Brief in die Hand und trat in ihre Wohnung ein. Sollte sie sich freuen? Oder den Brief besser ungelesen wegwerfen? Dazu war sie zu neugierig. Ohne ihre Schuhe auszuziehen setzte sie sich ins Wohnzimmer und las die wenigen Worte. „Simona, Liebste, bitte lass mich alles erklären. Du tust mir Unrecht. Komm direkt zu mir, ruf mich nicht an. Ich bin heute und morgen zu Hause. Ich liebe dich.“ Ihre Hand begann zu zittern und ein mulmiges Gefühl nahm von ihr Besitz. Dieses Gefühl würde lange Zeit nicht mehr von ihr weichen. Kurzentschlossen machte sie sich auf den Weg zu ihm. Sonst würde sie diese Nacht sowieso kein Auge mehr zu tun. 

Seither waren gerade mal etwas mehr als zwei Wochen vergangen. Und sie überlegte sich immer und immer wieder, wäre alles anders gekommen, wenn sie damals zu Hause geblieben wäre? Ihn einfach aus dem Leben gestrichen hätte? 

Als sie in die Strasse, in der sein Haus lag, einbog, kam es ihr ungewöhnlich still vor. Aber sie dachte sich nichts weiter dabei. Es war eben Ferienzeit, warscheinlich waren alle Nachbarn irgendwo an einem Strand. Bei dem durchschnittlichen Einkommen in dieser Gegend wahrscheinlich in der Karibik. Sie bog in seine Enfahrt ein, und sah, dass das Tor weit offen stand. Das war nun wirklich komisch. Vorsichtig näherte sie sich dem Tor, lief hinein, zur Haustür. Plötzlich polterte es drinnen. Ein Stöhnen. Sie hielt inne. Was war hier nur los? Aber es war zu spät um umzukehren. Hinter ihr schloss sich das Tor. Verunsichert trat Simona durch die Haustür, in seine riesige Villa. Es brannte kein Licht. Nur ein Schimmer, der unter der nächsten Tür hervordrang, erhellte den Raum etwas. Vorsichtig rief sie seinen Namen. „Wo bist du? Ich bins, Simona!“ Da spürte sie einen harten Schlag auf den Kopf. Ihr wurde schwarz vor den Augen noch bevor sie auf dem Boden aufschlug.

Als sie wieder zu sich kam, war es dunkel um sie herum. Sie lauschte in die sie umgebende Dunkelheit hinein. Stille. Mühsam rappelte sie sich auf. Schmerz explodierte in ihrem Kopf. Sie tappte sich Schritt für Schritt vorwärts. auf der Suche nach einem Lichtschalter. Sie lief durch eine Pfütze. Wasser vermutlich. Endlich fand sie den Lichtschalter. Als sie das Licht endlich einschaltete, fing sie an zu schreien. Sie war nicht durch eine Wasserpfütze gelaufen. Sondern durch eine Blutlache. Die aus dem Kopf einer blonden Frau floss. Einer toten blonden Frau, wie ihr die aufgerissenen, starren Augen unmissverstädnlich klar machten. Simona fing an zu zittern. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Was war hier los? Doch bevor sie auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde die auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes liegende Tür aufgerissen und sie starrte in die Mündung einer Pistole. „Hände über den Kopf!“ wurde sie von dem Polizisten angebrüllt.

Simona schauderte. Trotz der nahezu unerträglichen Hitze in ihrer Wohnung lief es ihr immernoch kalt den Rücken hinunter, wenn sie an das Gesicht der toten Frau dachte. Sie bekam es einfach nicht aus ihrem Kopf heraus. Es klebte in ihren Gedanken wie ein Kaugummi an einem Schuh. Ihn würde sie irgendwann vergessen. Diesen Anblick nicht. Das wusste sie. Ihre Katze sprang zu ihr auf den Schoss. Simona liess sie und begann, das Tier zu kraulen, bis das Fellknäuel genüsslich anfing zu schnurren, Das beruhigte sie wieder ein wenig. Doch ein Blick auf die Uhr liess die Unruhe wieder in in ihr aufkommen. Sie würde noch zu spät kommen.

Die Tage danach waren ein Albtraum gewesen. Der Polizist führte sie ab. Draussen warteten nicht nur etwa zwanzig weitere, bis auf die Zähne bewaffnete Polizisten, sondern auch eine Menge Schaulustiger, mit Aufnahmegeräten bewaffnete Journalisten und er. Sie wollte ihm zuschreien, er solle ihr helfen, er solle all diesen Fremden erklären, dass sie unschuldig sei. Doch er stand inmitten von Polizisten, Einer reichte ihm soeben eine Flasche mit Wasser. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Da hörte sie, wie er sagte: „Ich hätte nie gedacht, dass sie zu denen gehört. Oder dass sie zu so etwas fähig sein würde. Oh mein Gott, oh mein Gott…“. 

Sie wurde ins örtliche Gefängnis gebracht, befand sich offensichtlich in Untersuchungshaft. Seine Worte hallten immer wieder durch ihren Kopf. Was hatte er da gesagt? Wieso? Sie konnte, wollte es einfach nicht verstehen. Im Gefängnis erwarteten sie ausser einer unbequemen Zelle tausende von Befragungen auf die Sie keine Antwort wusste. Sie erfuhr, dass die blonde Frau die Tochter des Justizministers gewesen war. Alma Henders. Scheinbar hatte jemand ihm zwei Tage zuvor mit dem Mord an seiner Tochter gedroht, sofern er nicht dafür sorgen würde, dass Jack Johanson, der Spion der Red Union, aus dem Gefängnis entlassen würde. Und nun stand Simona unter Verdacht, als Auftragsmörderin für die Rot-Amerikanische Regierung gearbeitet zu haben. Was natürlich in keiner Weise der Wahrheit entsprach.

„Wo befanden sie sich am Abend des 26. Junis?“
„Mit wem hatten Sie in den letzten Wochen Kontakt?“
„Wer hat ihnen den Auftrag erteilt?“
„Für wen arbeiten sie?“ „Gebe sie endlich zu, im Auftrga der Rot Amerikanischen Staaten gehandelt zu haben!“ Lauter Fragen, die sie nicht beantworten konnte, Aufforderungen, denen sie nicht nachkommen konnte. Sie beteuerte immer und immer wieder ihre Unschuld.

Nach drei Tagen schliesslich wurde ihre Zellentür aufgerissen und ein magerer Mann, den sie noch nie gesehen hatte teilte ihr mit, dass sie gehen könne. Man habe nicht ausreichend Beweise gegen sie gefunden. Obwohl sie am Tatort war, fehlten ihre Fingerabdrücke an der Waffe, mit der Alma Henders erschossen worden war.
Nun war sie zwar nicht mehr in Haft. Aber eine gefangene ihrer kleinen Dachwohnung. Denn die Bevölkerung brauchte eine Schuldige. Simona wusste, wer der Schuldige war. Er. Er war der  Auftragsmörder. Deswegen war er immer wieder verschwunden. Die Polizei wusste das auch. Aber er war untergetaucht, niemand wusste wo er sich befand. Und wenn ein Mitglied der Red Union einmal weg war, wurde es nie wieder gefunden. Deswegen hatte der Fall von Jack Johanson für solches Aufsehen gesorgt. Aber er war ihnen entwischt. Und die Polizei wollt eunter keinen Umständen, dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Also war Simona für die gesamte Bevölkerung jetzt Staatsfeindin Nummer eins. Einfach so. Und niemand gab ihr die Chance, die wahre Geschichte zu erzählen.  Denn eines wurde ihr klargemacht: Sollte sie reden, würde sie umgehend wieder im Gefängnis landen. 

Es klingelte an der Tür. Sie schaute in den Bildschirm und sah den Boten, den sie bestellt hatte. Endlich, das wurde ja auch langsam Zeit. Sie liess den kleinen Warenlift mit dem Geld hinunter und nahm dann das Paket entgegen. Alles war drin. Die Perrücke setzte sie gleich auf. Ihre Lippen schminkte sie in einem grellen Rot. Einfach nur, weil sie so einer Filmschauspielerin aus dem vorigen Jahrhundert glich, die sie sehr mochte. Dann holte sie ihren fertig gepackten Koffer aus dem Schlafzimmer, steckte ihre Katze in ihren Transportkorb, kontrollierte, dass sie das wichtigeste dabei hatte, das Flugticket. Dann verliess sie ihre Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.


Sonntag, 29. Juli 2012

Vom Sinn der Zahlen

Challenge: Die Geschichte muss einen Assistenten am Schluss haben. Sie muss ein Glas Konfitüre beinhalten. Im Laufe der Geschichte wird ein Charakter attackiert.


Hier gehts zur Geschichte meines Kollegen: Das Jahr des Cellos

Nervös kaue ich auf meinem Bleistift. Am hinteren Teil war bereits nichts mehr von der ursprünglichen roten Farbe zu sehen und er glich stattdessen mehr einem braunen Kaugummi. Vor mir auf dem Pult befand sich eine noch ungeöffnete Dose Redbull, eine fast leere Flasche mit Wasser, drei weitere Stifte, ein Radiergummi, mein Ausweis, auf dem ich irgendwie aussehe wie ein betrunkener Pignuin und zwei Stapel Papier. Der grössere beinhaltet meine Notizen und Berechnungen. Das meiste ist durchgestrichen, noch einmal berechnet, wieder durchgestrichen, umrandet von vielen Herzen und kleinen Blümchen. Der kleinere Stapel besteht aus genau drei Blättern. Die Prüfung. Die Abschlussprüfung in Mathematik. Fünf Seiten voller Algebra, Statistik, Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Geometrie und anderen Sachen von denen ich nichts verstehe. 

Ich bin nicht dumm. Ich wage sogar zu behaupten, zu der intelligenteren Hälfte der Menschheit zugehören. Ich lese viel, bin immer über das Weltgeschehen informiert, spreche mehrere Sprachen fliessend und weiss zu allem etwas zu erzählen. Ausser zu Zahlen. Ich kann damit einfach nichts anfangen. Man stellt mit ihnen lauter Dinge an, mit denen ich nichts anfangen kann. Berechnungen, deren Sinn ich nicht verstehe. Ich mag Zahlen nicht. Man sagt ihnen nach, präzise zu sein, und dann sind sie es doch nicht. Sie machen Angaben zu Entfernungen, die sich dann, je nach dem wie müde ich bin, doch verschieden weit anfühlen. Zeitangaben, die sich ebenfalls nicht zuverlässig anfühlen. Gerade jetzt scheint jede Minute Stunden zu dauern. Altersangaben, über die ja sowieso jeder lügt. Angaben zum Gewicht, das man sowieso lieber nicht so genau wissen will.

Seufzend blättere ich die Seite um und versuche zum fünften Mal die Gleichung zu lösen. Etwas mit vielen Zahlen und Buchstaben und griechischen Symbolen. Diese Zahlen schaffen es sogar, Buchstaben zu etwas unverständlichem zu machen. So sehr ich es auch versuche, mein X tut nie das, was es eigentlich tun sollte.
Also versuche ich es stattdessen noch einmal mit der Berechnung der Kurve auf der ersten Seite. Eine gechwungene Linie, gefangen zwischen zwei starren Balken die X und Y heissen. Hier bekomme ich wenigstens ein Resultat. Nur leider jedesmal ein anderes, wenn ich es wieder nachrechne. Ich entscheide mich für den Durchschnitt der bisher errechneten Ergebnisse und schreibe die Zahl entschlossen, mit fester Schrift, auf das Lösungsblatt. 

Was solls, denke ich, und schliesse die Augen. Vor mir sehe ich kleine Fünfen und Dreien und Pi’s, mit kleinen Minipistolen bewaffnet schiessen sie auf mich. Von hinten attackieren mich kleine Alphas und Betas. Ich öffne meine Augen lieber wieder  und versuche eine weitere Aufgabe zu lösen. Wahrscheinlichkeitsrechnen. Wieso sollte ich wissen wollen, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, unter 10 Äpfeln einen faulen zu haben?  Es ist mir egal. Dann ist da eben ein Wurm im Apfel drin. Ich finde keinen Apfel essen weniger deprimierend als das Lösen dieser Aufgabe. Dabei habe ich wirklich viel gelernt. Was man mir zumindest ansieht. Denn da ich beim Lernen immer esse, habe ich in den letzten Monaten fast zehn Kilo zugenommen. Ich kann mich einfach besser konzentrieren, wenn ich esse. Es beruhigt mich. Je nervöser ich bin, desto mehr Essen stopfe ich in mich hinein. Gestern, als ich noch ein letztes Mal versucht habe, Mathe zu verstehen, habe ich ein ganzes Glas Quittengelee verschlungen. Einfach so. Mir war nicht mal schlecht danach. Besser verstanden habe ich den Stoff trotzdem nicht. 

Es ist mir überhaupt ein Rätsel, warum von mir verlangt wird, bespielsweise Kurven berechnen zu können. Schlussendlich wird es doch ohnehin denjenigen überlassen, die das gerne machen und vor allem etwas davon verstehen. Was solls. Ich rapple mich auf. Daran kann ich jetzt auch nichts mehr ändern. Ich wollte ja unbedingt diesen Abschluss haben. Dann ziehe ich das jetzt auch durch. Ich greife in meine Tasche nach meinen beiden wertvollen Assistenten: Der Taschenrechner und das Formelbuch. Ich werde es schaffen, wenigstens zwei dieser Aufgaben zu lösen. Das wäre ja gelacht, wenn ich wegen diesen dämlichen Zahlen jetzt durchfallen würde. Diesen Sieg gönne ich den Biestern nicht. Und danach werde ich nie wieder, in meinem ganzen Leben ein Mathebuch in die Hand nehmen. Nie. Wieder.

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Kürzlich habe ich mit einem Freund ein sogenanntes "Writers Challenge" gestartet: Schreibprojekte, bei denen man in kurzer Zeit zu bestimmten Vorgaben einen Text schreiben muss. Alle so entstandenen Geschichten werden hier veröffentlicht, jeweils mit dem Link zum Text meines Schreiberling-Kollegen. 


Viel Spass!